
Im neuen Licht: Kohlenhydrate
Im neuen Licht: Kohlenhydrate und sportliche Leistung
Kohlenhydrate gelten seit fast einem Jahrhundert als essenziell für die sportliche Leistungsfähigkeit. Diese Überzeugung geht auf zwei bahnbrechende Studien aus den Jahren 1924 und 1925 zurück, in denen Dr. Burgess Gordon und Dr. Samuel Levine von der Harvard Medical School feststellten, dass Läufer während eines Boston-Marathons blasse Haut, verringerte geistige Leistungsfähigkeit, extreme Erschöpfung und Reizbarkeit entwickelten. Bei der Untersuchung des Blutes dieser Athleten fanden sie sehr niedrige Glukosewerte, ein Zustand, der als Hypoglykämie bezeichnet wurde. Dieses plötzliche Gefühl extremer Müdigkeit und die verringerte Leistungsfähigkeit, insbesondere bei Langstreckenläufen, wurden später als „Hitting the Wall“ oder „Bonking“ bekannt.
Hypoglykämie ist ein medizinischer Begriff zur Beschreibung niedriger Blutzuckerwerte unter 70 mg/dL (<3,9 mmol/L), begleitet von hormonellen Gegenregulationsmechanismen, die Symptome wie Müdigkeit, Reizbarkeit und reduzierte kognitive Funktion hervorrufen.
Im folgenden Jahr gaben Dr. Gordon und Dr. Levine den Athleten während des Boston-Marathons gezielt Kohlenhydrate – mit der folgenden Logik:
„…Es wurde vorgeschlagen, dass eine ausreichende Aufnahme von Kohlenhydraten vor und während einer längeren und intensiven Muskelbelastung erhebliche Vorteile bringen könnte, indem sie eine Hypoglykämie und die damit verbundene Entwicklung von Erschöpfungssymptomen verhindert.“ Bemerkenswerterweise verbesserten sich fast alle Athleten, und keiner von ihnen entwickelte Hypoglykämie oder erlebte Symptome des „Hitting the Wall“. Dies war der erste Beweis dafür, dass durch Bewegung induzierte Hypoglykämie ein entscheidender Faktor für die sportliche Leistungsfähigkeit ist.
Im Jahr 1959 entwickelte Dr. Jonas Bergstrom eine Technik zur Entnahme von Muskelgewebe. Diese Technik, später als „Bergstrom-Muskelbiopsie“ bekannt, ermöglichte in seiner hochzitierten Arbeit von 1967 die Messung und Bewertung von Muskelglykogen. Dies führte zur Erkenntnis, dass Glykogen während körperlicher Belastung genutzt wird. Eine weitere bahnbrechende Entdeckung im Jahr 1986 stellte einen Zusammenhang zwischen erhöhter systemischer Kohlenhydratoxidation und Leistungsfähigkeit her. Diese Entdeckungen verlagerten den wissenschaftlichen Fokus schnell weg von der durch Bewegung induzierten Hypoglykämie als kritischem Leistungsfaktor hin zur Bedeutung von Muskelglykogen und Kohlenhydratoxidation.
Zusätzlich wurden hochkohlenhydrathaltige Diäten (HCLF), die reich an Glykogenspeichern sind, als essenziell für die Steigerung der Ausdauerleistung angesehen. Sie verhindern das frühzeitige Auftreten von Ermüdung durch eine kontinuierliche Kohlenhydratoxidation. Diese Überzeugung basiert auf der Annahme, dass Muskelglykogen eine obligatorische Energiequelle während längerer Belastungen ist und dass niedrige Glykogenspeicher zu einer schnelleren Erschöpfung führen können. Insgesamt wurde damit eine jahrhundertelange Annahme begründet, dass Kohlenhydrate für die menschliche Leistungsfähigkeit unverzichtbar sind – vor allem durch ihre Auswirkungen auf Muskelglykogen- und Kohlenhydratoxidationswerte.
Der Aufstieg der ketogenen (kohlenhydratarmen) Ernährung
Seit 2010 ist das Interesse an der ketogenen Ernährung sprunghaft angestiegen, da zahlreiche Studien ihr therapeutisches Potenzial für verschiedene Krankheiten und Störungen aufzeigten. Einige renommierte Sportphysiologen argumentierten zudem, dass eine ketogene Ernährung auch die sportliche Leistungsfähigkeit optimieren könnte. Allerdings gab es starken Widerstand aus der Sportwissenschaft. Mehrere Studien testeten diese Theorie und kamen zu dem klaren Schluss, dass die Anpassung an eine kohlenhydratarme Ernährung „schnell“ erfolgt, aber „die Leistung beeinträchtigt“.
Es gab jedoch ein Problem:
Alle diese Studien berücksichtigten nur eine kurze Anpassungszeit (< 4 Wochen).
Frühe Pioniere in den Bereichen Ernährung und Stoffwechsel, wie Dr. Stephen Phinney, schlugen vor, dass Athleten mit ausreichend langer Anpassungszeit – etwa vier Wochen – sich anpassen und auf einer ketogenen Ernährung optimal performen könnten. Er argumentierte, dass diese Athleten Zeit zur metabolischen Umstellung benötigten.
Verständnis der Anpassung an eine kohlenhydratarme Ernährung
In den 1960er- und 1970er-Jahren lieferte George Cahill wertvolle Einblicke in diesen komplexen physiologischen Prozess, die später im Jahr 2006 zusammengefasst wurden.
Hintergrund: Nach der Reduzierung von Kohlenhydraten aus der Ernährung werden die Glukosevorräte schnell aufgebraucht, gefolgt von der Reduktion der Leberglykogenspeicher. Dies führte zu einem Glukosemangel im Körper und löste eine Verringerung des Insulinspiegels aus. Insulin ist der Hauptregulator des Stoffwechsels und beeinflusst direkt enzymatische Prozesse im Fettgewebe und in der Leber zur Steuerung der Energiequellen. Mehr Insulin bedeutet mehr Speicherung, weniger Insulin bedeutet weniger Speicherung.
Die reduzierte Insulinausschüttung und die damit verbundenen Erhöhungen der Glukagon- und Katecholaminspiegel führten zu einer verstärkten Freisetzung freier Fettsäuren, die sich über Wochen hinweg zur dominierenden Energiequelle des Körpers entwickelten. Allerdings wissen wir bislang noch wenig über die genauen Zeiträume dieser metabolischen Anpassung, da sie schwer messbar sind.
Bemerkenswerterweise konnte die Normalisierung der Muskelglykogenspeicher in keiner Studie eindeutig nachgewiesen werden – mit Ausnahme einer Analyse von Ultra-Ausdauersportlern, die sich über einen Zeitraum von mehr als 9 Monaten an eine ketogene Ernährung angepasst hatten.Während das niedrigere Insulin in der Leber den „Block“ auf dem Fettstoffwechsel aufhob und so eine veränderte Substratnutzung ermöglichte – ein Prozess, der schnell erfolgt – gibt es weitere metabolische Veränderungen, die über längere Zeiträume hinweg stattfinden und noch nicht vollständig verstanden sind.Kürzlich testete ein Forschungsteam genau diese Theorie: Sie untersuchten Spitzensportler in einem 1,5 km „Time Trial“ mit maximaler Anstrengung sowie in 6×800-Meter-Sprints unter kohlenhydratarmer und kohlenhydratreicher Ernährung über einen Zeitraum von 4 Wochen.
Ergebnisse:
Nachdem sich die Athleten vier Wochen lang an eine kohlenhydratarme Ernährung gewöhnt hatten, gab es nicht nur keine Leistungseinbußen bei sehr hoher Belastungsintensität, sondern die sportliche Leistung wurde durch „Rekordwerte“ der Fettverbrennung (>85 % ihrer VO2max) sogar optimiert.
Nicht nur die aufrechterhaltene Leistungsfähigkeit während intensiver körperlicher Belastung war überraschend, sondern auch die Fähigkeit des Körpers, Fett bei solch hohen Belastungsintensitäten als Hauptenergiequelle zu nutzen.
Herausforderung des „Crossover-Konzepts“
Über Jahre hinweg wurde angenommen, dass der Körper mit zunehmender Trainingsintensität von einer überwiegenden Fettverbrennung zu einer Kohlenhydratoxidation übergeht. Dieses Prinzip wurde als „Crossover-Konzept“ bezeichnet. Mit steigender maximaler Sauerstoffaufnahme (VO2max, ein Maß für die Trainingsintensität) nahm die Energiegewinnung aus Fett ab, während die aus Kohlenhydraten zunahm. Der Punkt, an dem der vorherrschende Energieträger von Fett zu Kohlenhydraten wechselt, wurde als „Crossover-Punkt“ bezeichnet. Das Problem: Aktuelle Daten zeigen Rekordwerte der Fettverbrennung (einige Athleten erreichten >1,5 g/min), selbst bei hoher Belastung (85 % VO2max), wo laut Crossover-Konzept nahezu keine Fettverbrennung mehr stattfinden sollte.
Durchbruch bei der Untersuchung von Langzeitausdauerleistungen
Bereits 1924 wurde beobachtet, dass Athleten beim Ausdauertraining an ihre Leistungsgrenze gelangen („Hit the Wall“). Besonders bei langen, intensiven Trainingseinheiten schien es logisch, dass eine kohlenhydratreiche Ernährung die Ausdauer verbessern könnte:
- Mehr Glykogenspeicher
Eine kohlenhydratreiche Ernährung erhöht die Glykogenspeicher in Leber und Muskeln. Dadurch kann die Leber mehr Glukose freisetzen, um Hypoglykämie zu verhindern, während der Muskel über mehr gespeicherten Treibstoff für die Energiegewinnung verfügt. Eine kohlenhydratarme Ernährung sollte die Glykogenspeicher reduzieren, Hypoglykämie beschleunigen und die Kohlenhydratoxidation senken. - Effizientere Energiegewinnung?
Kohlenhydrate sollen eine effizientere Energiequelle als Fett sein, da ihre „Kosten“ pro Energieeinheit geringer sind. Eine kohlenhydratarme Ernährung sollte die Kohlenhydratoxidation reduzieren und die Fettverbrennung erhöhen – aber bedeutet dies wirklich eine reduzierte Leistung?
In der Sportphysiologie bildeten sich drei zentrale Fragen:
- Beeinträchtigt eine ketogene Ernährung tatsächlich die Ausdauer?
Die Annahme war, dass weniger Muskel- und Leberglykogen die Kohlenhydratoxidation senken und die Leistung mindern würde. Falls ja, würde dies die zentrale Bedeutung von Glykogen und Kohlenhydraten für die Leistung unterstreichen. - Kann eine minimale Kohlenhydratzufuhr zur optimalen Leistung führen ?
Tests mit nur 10 g Kohlenhydraten pro Stunde (6- bis 12-mal weniger als die Standardempfehlungen) sollten zeigen, ob eine minimale Menge an Kohlenhydraten genügt, um Hypoglykämie zu verhindern – aber ohne Glykogenspeicher oder Kohlenhydratoxidation zu beeinflussen. - Wie lange dauert die Keto-Adaption?
Mithilfe einer kontinuierlichen Stoffwechselüberwachung über 6 Wochen wurde untersucht, wann sich die Leistungsfähigkeit auf einer ketogenen Ernährung normalisiert.
Studiendesign
Ein Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Philip Prins, Dr. Timothy Noakes, Dr. Jeff Volek und Dr. Dominic D’Agostino testete diese Hypothesen an Triathleten.
Studiendesign-Kriterien:
Randomisierung: Die Reihenfolge der Diäten wurde zufällig festgelegt.
Crossover-Design: Jeder Teilnehmer durchlief beide Diäten, um genetische und umweltbedingte Unterschiede auszuschließen.
Konstante Kalorien: Die Kalorienaufnahme wurde in beiden Ernährungsformen gleichgehalten.
Kontrollierte körperliche Aktivität: Die Trainingsbelastung blieb konstant.
Ernährungsprotokoll: Alle Teilnehmer wurden durch Ernährungsberater überwacht. Der Ketose-Status wurde durch Ketone-Messungen überprüft.
Teilnehmerprofil:
• Triathleten mit mindestens 160 km Radtraining pro Woche
• VO2max über 50 ml/kg/min
• Mindestens 8 Stunden Training pro Woche
Leistungstest:
Die Athleten folgten 6 Wochen lang entweder einer kohlenhydratreichen oder einer kohlenhydratarmen ketogenen Ernährung. Anschließend absolvierten sie ein intensives Ausdauertraining (70 % VO2max) bis zur völligen Erschöpfung („Hit the Wall“).
Die Ergebnisse:
- Ketogene Ernährung war nicht leistungsschwächer:
- Trotz gesenkter Glykogenspeicher und geringerer Kohlenhydratoxidation zeigten die Athleten keine reduzierte Leistung.
- Dies stellt die Annahme infrage, dass Kohlenhydrate für eine maximale Ausdauerleistung zwingend erforderlich sind.
- Kohlenhydratzufuhr steigerte die Leistung in beiden Diäten um 22 %:
- Dies zeigt, dass Kohlenhydrate nicht zwingend in der täglichen Ernährung nötig sind – aber dennoch eine Rolle in der sportlichen Leistung spielen.
- Eine minimale Kohlenhydratzufuhr genügte, um Hypoglykämie zu verhindern:
- Bereits 3,4 g Kohlenhydrate alle 20 Minuten eliminierten die Hypoglykämie und verbesserten die Leistung um 22 %.
- Dies deutet darauf hin, dass der entscheidende Leistungsfaktor eher die Vermeidung von hypoglykämischer Erschöpfung als die absolute Glykogenspeicherhöhe ist.
Die Bedeutung der Keto-Adaption
Viele Forscher fragten sich: Warum dauert es 4 Wochen, bis sich die Leistung normalisiert?
Mithilfe kontinuierlicher Glukosemessung (alle 5 Minuten über 6 Wochen) zeigte sich:
Nach exakt 4 Wochen normalisierten sich:
- Der 24-Stunden-Glukosespiegel
- Der Ketone-Spiegel
Diese Daten geben erstmals einen objektiven Marker für eine vollständige Keto-Adaption.
Erkenntnisse
1) Ernährungswahl ist individuell:
Sportler können zwischen kohlenhydratreicher oder -armer Ernährung wählen, ohne Leistungsnachteile befürchten zu müssen.
2) Minimale Kohlenhydratzufuhr kann ausreichen:
10 g Kohlenhydrate pro Stunde können die Leistung bei langen Trainingseinheiten optimieren – viel weniger als die herkömmlichen Empfehlungen von 60-120 g/h.
3) Die 4-Wochen-Adaption ist entscheidend:
Eine langfristige Anpassung an eine ketogene Ernährung kann mit kontinuierlicher Blutzucker- und Ketonmessung überwacht werden.
4) Gesundheitliche Vorteile über den Sport hinaus:
Kohlenhydratarme Ernährung bietet therapeutische Vorteile für Stoffwechselerkrankungen und könnte eine sinnvolle Option für Sportler und Nicht-Sportler sein.
Fazit
Diese Studie stellt langjährige Überzeugungen in der Sporternährung infrage. Eine ketogene Ernährung beeinträchtigt die sportliche Leistung nicht und eine minimale Kohlenhydratzufuhr kann Hypoglykämie verhindern.
_ Kohlenhydrate sind nicht essenziell – aber sie können helfen.
_ Die Vermeidung von Hypoglykämie ist entscheidender als hohe Glykogenspeicher.
_ Ernährungsstrategien sollten individuell angepasst werden.
Diese Erkenntnisse ebnen den Weg für eine flexiblere und personalisierte Herangehensweise in der Sporternährung.